Die Meldestelle für Diskriminierung und extrem rechte Aktivitäten dokumentiert rassistische, antisemitische und queerfeindliche Vorfälle, die im Alltag in Berlin passieren. Mit der UnAuf spricht Kati Becker, Leiterin der Projektkoordination der Berliner Register, über die Entwicklungen des letzten Jahres, insbesondere über den massiven Anstieg an antisemitischen Vorfällen. 

UnAuf: In den letzten Monaten fanden viele Demonstrationen in Berlin im Zusammenhang mit dem Krieg in Gaza statt. Welche Beobachtungen machen die Berliner Register seit dem Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023?

Kati Becker: Ende September haben wir eine interne Zwischenauswertung unserer Meldungen aus 2023 gemacht und dabei festgestellt, dass die Vorfallszahlen in all unseren Kategorien angestiegen sind — außer beim Antisemitismus. Dann kam der 7. Oktober und die Zahlen sind explodiert. Allen, die zu mir sagen, die Vorfälle seien im gleichen Maße gestiegen wie beim antimuslimischen Rassismus, kann ich nur antworten, nein, die Zahlen sind überhaupt nicht vergleichbar.

Das, was wir beim antimuslimischen Rassismus und Antisemitismus — zwei Themenfelder, die ohnehin seit Jahren miteinander konkurrieren — sehen, ist, dass die Auseinandersetzungen in Israel und Gaza eher zu antisemitischen als zu antimuslimischen Vorfällen führen. 102 antisemitische Fälle waren es allein im Oktober 2023. In den vorherigen Monaten schwanken die Zahlen etwa zwischen zehn und 20 antisemitischen Vorfällen. 

Natürlich zählen wir auch antimuslimische Vorfälle — jedes Jahr um die 250. Neben Meldungen über propagandistische Aufkleber vom III. Weg oder der Identitären Bewegung, kommt es insbesondere gegenüber Frauen mit Kopftuch auch zu körperlichen Angriffen. Vorfälle wie dieser haben jedoch wahrscheinlich etwas mit dem Angriff der Hamas zu tun: Am 18.11. erhielt eine Reinickendorfer Moschee einen Hassbrief, in dem neben einem antimuslimisch-rassistischen Brief auch Schweinefleisch, angebrannte Koranseiten und Fäkalien enthalten waren. Weitere Hassbriefe und Drohanrufe gegenüber Moscheen seit dem 7. Oktober wurden beispielsweise auch aus Wedding, Neukölln und Mitte gemeldet. 

Wie verteilen sich die antisemitischen Vorfälle und Angriffe über das Stadtgebiet?

Beim Antisemitismus sind immer genau da die Hotspots, wo jüdisches Leben sichtbar ist. Es braucht Jüdinnen und Juden, die gesehen werden, damit etwas passiert. Auf das gesamte Jahr 2023 bezogen, sehen wir beispielsweise in Spandau einen antisemitischen Vorfall, in Reinickendorf sechs. Wenn wir uns im Vergleich dazu Mitte anschauen, dann haben wir dort 69 antisemitische Vorfälle, insbesondere auf Veranstaltungen, also Demos. Dazu kommen Angriffe und Bedrohungen. Neukölln hat bislang 43, Friedrichshain-Kreuzberg 45 und Charlottenburg-Wilmersdorf 36 Meldungen. In diesen Bezirken sind Synagogen. Ohne Synagoge im Kiez zählen wir weniger Vorfälle.

Können die Berliner Register feststellen, dass andere politische Ereignisse wie die Ermordung George Floyds oder das Attentat in Hanau auch die Zahl der Vorfälle beeinflussen?

Wir haben relativ viele Leute, die uns immer etwas schicken, wenn sie etwas sehen. Etwa 60 Prozent aller Vorfälle sind Propaganda, also irgendwelche Aufkleber oder Schmierereien. Die werden eigentlich das ganze Jahr über auch von den gleichen Leuten geklebt und geschmiert — ohne einen bestimmten historischen oder politischen Anlass. Zu Beginn der Corona-Pandemie gab es tatsächlich einige Vorfälle von anti-asiatischem Rassismus. Solche globalen Ereignisse können also schon einen Einfluss haben, aber dass uns zum Beispiel nach Hanau mehr Menschen Vorfälle gemeldet haben, das ist nicht passiert. 

Diesen krassen Anstieg sehen wir hauptsächlich beim Antisemitismus, ob während der Pandemie oder durch die aktuelle Kriegssituation in Israel und Gaza. Der Antisemitismus funktioniert anders als die anderen Themenfelder. Das ist wirklich auffallend — und ich glaube auch völlig unterschätzt von den meisten Menschen. Es mag daran liegen, dass viele selbst nicht betroffen sind, aber schauen Sie unter jedes Video einer jüdischen Organisation, lesen Sie unter jedem Twitter-Beitrag oder sonst etwas, Sie können die antisemitischen Kommentare nicht übersehen. 

Welche weiteren Faktoren beeinflussen die Anzahl der Meldungen? Gibt es beispielsweise meldeschwächere und -stärkere Bezirke? 

Spandau ist der Bezirk mit den wenigsten Vorfällen. Und zwar nicht, weil die Leute da alle so super drauf sind, sondern weil es an Struktur und Vernetzung fehlt. Wir haben in den Ost-Berliner- und in den Innenstadt-Bezirken eine Zivilgesellschaft, die seit vielen Jahren gegen die extreme Rechte arbeitet, die diesen „Feind“ aber auch immer hatte, gegen den sie arbeiten konnte. Deswegen sind dort viele Initiativen und Bündnisse entstanden, so auch die Berliner Register.

So etwas gibt es in anderen Bezirken wie Reinickendorf, Spandau oder Steglitz-Zehlendorf deutlich weniger. In Bezirken, in denen viel Grün ist, viele Einfamilienhäuser stehen und in denen es keine organisierte rechte Szene gibt, sind auch weniger Vorfälle. Je mehr Menschen, je mehr Knotenpunkte wie Bahnhöfe, an denen sie aufeinandertreffen, desto mehr Vorfälle zählen wir. Als Party-Kieze funktionieren Mitte, Friedrichshain-Kreuzberg und Nord-Neukölln ganz anders. Dort sind nicht irgendwelche Aufkleber das Problem, sondern die vielen Angriffe, Beleidigungen und Bedrohungen. Viele Menschen und die U-Bahn, die hin und her fährt, sind Garanten dafür, dass Vorfälle passieren. 

Welche neuen Entwicklungen sehen Sie für das vergangene Jahr 2023? 

Wir sehen einen noch stärkeren Anstieg der LGBTIQ*-feindlichen Vorfälle als 2022. Für das Jahr 2023 zählen die Register 360 Vorfälle, 2022 waren es insgesamt 239. Und wir haben bisher noch keinen Abgleich mit den Beratungsstellen gemacht. Was die Angriffe, also Körperverletzungen, angeht, sind es aktuell 78. Das ist die höchste Zahl, die wir seit dem Beginn unserer Arbeit selbst in diesem Themenfeld verzeichnet haben.

Durch die Corona-Pandemie haben sich online in den sozialen Netzwerken viele Betroffenengruppen neu organisiert, so auch in der LGBTIQ*-Szene. Wir sehen, dass Menschen selbstbewusster werden und anfangen, selbst Veranstaltungen zu organisieren, beispielsweise eine Pride in Marzahn. Die Sichtbarkeit von Menschen, die queer sind, hat sich erhöht und dadurch eben auch die Anlässe, bei denen sie angegriffen werden können.

Auch wir sind viel sichtbarer in diesem Themenfeld geworden und haben Beiträge und Analysen veröffentlicht — für die wir regelmäßig von der extremen Rechten, der Neuen Rechten und dem transfeindlichen Spektrum aus der Frauenbewegung angegriffen werden. Und wir werden nicht die letzten sein, die diese Shitstorms treffen. Deswegen ist es total wichtig, nicht nur in Berlin, sondern bundesweit deutlich zu machen, dass Diskriminierung und Hass uns alle betrifft. 

Insbesondere vor den Wahlen in Ostdeutschland müssen wir zusammenhalten. 

Es geht tatsächlich um die Demokratie und es geht darum, uns gegenseitig zu stärken und zu schützen. Ich wünsche mir, dass wir diese Arbeit noch lange weitermachen können, weil wir über die vielen Jahre ein Verständnis dafür entwickeln können, wie Ausgrenzung in unserer Gesellschaft funktioniert. Das ist etwas, das über einen so langen Zeitraum in der Forschung kaum realisiert werden kann, auch nicht mit kleineren Projekten. 

 


Foto: Berliner Register