In einem offenen Brief haben Anfang Mai über tausend Lehrende verschiedener Berliner Universitäten die in ihren Augen vorschnelle Räumung eines pro-palästinensischen Protestcamps an der FU kritisiert (UnAuf berichtete). Sie forderten, von Polizeieinsätzen an Unis und strafrechtlicher Verfolgung von Studierenden abzusehen.

Dr. Marcus Funck leitet den Studiengang Interdisziplinäre Antisemitismusforschung am Zentrum für Antisemitismusforschung der TU Berlin und hat den Brief nicht unterschrieben. 

UnAuf: Herr Funck, warum haben sie den offenen Brief nicht unterschrieben?

Marcus Funck: Aus verschiedenen Gründen. Zum einen hatte ich zu dem Zeitpunkt, als ich von dieser öffentlichen Stellungnahme erfahren habe, noch keine genaue Kenntnis über den Ablauf des Protestes und der polizeilichen Räumung. Es waren nämlich verschiedene Versionen im Umlauf, und wenn ich streng akademische Kriterien anlege, möchte ich so eine Entscheidung dann wirklich erst auf der Grundlage von gesichertem empirischen Wissen treffen. Aber auch, nachdem ich mir ausreichend Informationen eingeholt hatte, blieben meine Bedenken größer als die partielle Zustimmung zu den in der Stellungnahme aufgeführten Argumenten.

UnAuf: Und was wären die Punkte, denen Sie zustimmen?

Marcus Funck: Zum einen verstehe ich Universitäten als Orte des dialogischen Austauschs wie auch der radikalen Kritik, wo, argumentativ begründet, auch Positionen eine Geltung beanspruchen können, die außerhalb dieses Raumes auf wenig Akzeptanz stoßen. Und auch als Orte, an denen sich politischer Protest äußern kann und soll. Dennoch gilt die Einschränkung, dass es sich bei Universitäten um spezifische öffentliche Orte handelt, die eben auf dialogisches Denken hin ausgerichtet sind. Und nach allem, was ich mitbekommen habe, war in dieser Protestgruppe die Bereitschaft zum Dialog überhaupt nicht vorhanden. Eher umgekehrt: Es ging um die Zerstörung eines Dialogs, wie zum Beispiel die Störungen des Seminarbetriebs zeigen.

UnAuf: Wo wir wieder bei den Gründen gegen ein Unterzeichnen wären…

Marcus Funck: Ja. Prinzipiell ist es richtig, auf die umstrittene israelische Offensive gegen Rafah Bezug zu nehmen, zumal auch der Vorwurf von Kriegsverbrechen im Raum steht. Aber jedes Ereignis steht in unterschiedlichen Kontexten. Diesen ersten Kontext, also die israelische Offensive gegen Rafah, allein zum Bezugspunkt der Stellungnahme zu machen, halte ich – so sehr ich dem inhaltlich auch zustimme – einfach für einseitig und unterkomplex. Denn es gibt eben diesen zweiten Kontext der gewachsenen Unsicherheit von jüdischem Leben in Deutschland, den wir nicht vergessen dürfen. Denn wie wir alle wissen, haben die gewaltförmigen Übergriffe gegen Jüd*innen in Deutschland seit dem siebten Oktober, auch aus solchen Gruppen heraus, erheblich zugenommen. Und wenn wir bei den Kontexten bleiben: Das Massaker des siebten Oktobers an sich ist hier der wichtigste, in einem kürzeren Zeitzusammenhang gesehen, ursächliche Bezugspunkt, der nicht einmal genannt wird.

UnAuf: Was ist für Sie persönlich das Problematischste an dem Brief?

Marcus Funck: Ich arbeite am Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin und bin in meiner Funktion auch zuständig für den akademischen Austausch mit israelischen Universitäten, von dem nicht zuletzt unsere Studierenden profitieren. Natürlich schockiert mich an diesem langen Katalog am meisten die explizite Forderung eines umfassenden akademischen Boykotts von israelischen Universitäten. Hier ist für mich eine absolute rote Linie überschritten. Ein aktiver Boykott meiner Kolleginnen und Kollegen, mit denen wir kooperieren und die ich auch persönlich gut kenne, kommt für mich einfach nicht infrage. Außerdem bilden diese Kolleginnen und Kollegen den kritischen Kern der israelischen Gesellschaft, von ihnen geht nicht nur ein guter Teil der Kritik an der derzeitigen israelischen Regierungspolitik aus, sondern auch an den Verhältnissen in der Westbank und der katastrophalen humanitären Situation in Gaza. Wir würden diesen Leuten den Teppich unter den Füßen wegziehen und das geht für mich auf keinen Fall. Außerdem stört mich ganz persönlich dieser aktuelle Drang, man könnte fast sagen Zwang zu öffentlichen Bekenntnissen, ohne vorher vielleicht mal ein paar Tage darüber nachzudenken. Ich empfinde diese Entwicklung mittlerweile als ein echtes Problem, weil sie die ohnehin starke Tendenz zur Polarisierung noch weiter verstärkt, ohne wirklich neue Perspektiven einzubringen.

UnAuf: In den Medien, vor allem von Seiten der Springer-Presse, werden die aktuellen Proteste mitunter als strukturell antisemitisch bezeichnet. Gehen Sie mit diesem Vorwurf mit?

Marcus Funck: Also, das sind eigentlich zwei Fragen in einer. Ich versuche das mal zu teilen: Zum einen sind solche pauschalen und auf zukünftige Ereignisse bezogene Vorwürfe und ja, auch Vorhaltungen, grundsätzlich problematisch. Es mag wichtig sein, mögliche Szenarien vorab durchzuspielen, aber wir können uns nicht anmaßen zu behaupten, dass wir vorab wüssten, wie Proteste und Demonstrationen im Detail ablaufen. Gleichzeitig ist es wichtig, dass man vor Ort genau prüft, was gesagt, was auf Plakate geschrieben, was an Wände geschmiert, was in Form von Parolen gerufen wird. Dabei sollte es allerdings gar nicht um das stupide Abzählen von Slogans gehen, sondern darum, welche Sinnstrukturen dahinterstehen. Also gewisse antisemitische Tropen, Metaphern, Bilder, die lassen sich schon finden, und zumeist auch relativ einfach. Ich halte es allerdings für problematisch, diese pauschal auf die Proteste insgesamt zu beziehen. Vielmehr sollte es darum gehen, einerseits tatsächlich einzelne antisemitische Momente oder Äußerungen genau zu identifizieren, andererseits zu klären, ob es sich dabei eben um einzelne, isolierte Äußerungen handelt oder ob es diesen einen gemeinsamen Sinn gibt, der antisemitisch ist. Sie können sich denken, dass dies wesentlich komplexerer Analyseverfahren bedarf, als sich in eine Zeitungsschlagzeile pressen lassen. Allerdings sollte in der unmittelbaren Situation auch gelten: Im Zweifel immer für diejenigen, die sich bedroht fühlen, und das sind in diesem Kontext jüdische Studierende und Mitbürger. Das muss man ernster nehmen, als es häufig getan wird.

Der zweite Teil Ihrer Frage bezieht sich auf die – man kann es nicht anders nennen – Hetzkampagnen von Seiten bestimmter Medien, aber auch Persönlichkeiten. Also das, was die Bild-Zeitung gemacht hat, ist ja nichts anderes als einen modernen Pranger aufzustellen und die Proteste, die Reaktion auf die Proteste und dann eben die Reaktion der Uni-Leitung (Anm. d. Red.: Hier ist die Leitung der FU gemeint) auf diese Stellungnahme hin für ganz eigene Zwecke politisch zu instrumentalisieren. Das ist ganz offensichtlich und überrascht eigentlich auch niemanden. Es handelt sich um eine perfide Strategie, die auch in ganz anderen Zusammenhängen immer wieder gefahren wird: Personalisierung, Skandalisierung, emotionale Überhitzung von Problemlagen und Auseinandersetzungen sind ja ein kalkulierter Teil der publizistischen Strategie dieser Presse. Mit denen würde ich auch nie reden. Wirklich skandalös und beschämend finde ich hingegen, dass eine Bundesministerin, die für die Wissenschaften zuständig ist, sich diese Argumentationslinie öffentlich zu eigen macht und davon auch nach tagelanger Möglichkeit des Nachdenkens nicht abweicht. Es ist doch vollkommen absurd, den Unterzeichnern die Ablehnung der „freiheitlich-demokratischen Grundordnung“ zu unterstellen, weil sie sich kritisch über einen Polizeieinsatz äußern. Also, ich kann es nicht anders sagen: Das ist beschämend und auch intellektuell einfach armselig. Umso wichtiger war dann die Reaktion der Universitätspräsidiums, das ihre Kolleg*innen vor solcher Hetze in Schutz genommen hat.

UnAuf: Welche Entscheidung hätten Sie als Unileitung getroffen? Hätten Sie auf einen Polizeieinsatz verzichtet?

Marcus Funck: Ich bin wirklich froh darüber, dass ich solche Entscheidungen nicht treffen darf oder muss. Wie gesagt, polizeiliche Einsätze an Unis entsprechen nicht meinen Vorstellungen von kritischem Dialog. Es handelt sich dabei um eine Form von Gewaltanwendung, die eben auch den freien Diskurs auf absehbare Zeit zerstört. Andererseits gab es ja von vornherein wirklich keine Dialogbereitschaft seitens der Protestierenden. Eine schwierige Situation und ein echtes Entscheidungs-Dilemma. Als eine Möglichkeit, die wir hier oder insbesondere an Universitäten haben, sehe ich die Verpflichtung der Lehrenden, aber auch der Studierenden, die sich mit dem Thema sich befassen, sich von dieser Social Media-Logik, der Verkürzung, Verzerrung, Auslassung, Überhitzung, Emotionalisierung, ein Stück weit rauszuziehen und zu versuchen, eine Atmosphäre zu schaffen, in der erstens tatsächlich mit einem sehr weiten Begriff von Meinungsfreiheit argumentiert werden darf, aber eben in einer regelbasierten dialogischen Atmosphäre, die auf der Anerkennung des Rechtes des Anderen, auf einer anderen, argumentativ gestützten Meinung basiert. Und zweitens, dass man gemeinsam nach Konfliktlösungen sucht. Das wäre natürlich der Idealfall. Zumindest aber sollte ein Gesprächskonsens darüber hergestellt werden, worüber man eigentlich spricht und wie man darüber spricht.

UnAuf: Gelingt das denn am Zentrum für Antisemitismusforschung, an dem Sie arbeiten?

Marcus Funck: Ja, ich mache mal ein bisschen Eigenwerbung. Das Zentrum für Antisemitismusforschung steht ja unter kritischer Beobachtung vieler außeruniversitärer Akteure, die noch nie einen Fuß in unsere Räume gesetzt oder unsere Texte – alle Texte – gelesen haben. Vielen ist das Thema Nahostkonflikt derzeit “zu heiß”, aber für uns ist es das nicht. Wir haben es geschafft, dass sich eine sehr heterogene Studierendenschaft in unseren Seminaren zusammenfindet und über den Konflikt, seine Ursachen, die daraus folgenden Konsequenzen und Reaktionen und natürlich auch über den damit in Zusammenhang stehenden Antisemitimus offen austauscht. Dialog kann funktionieren. Ich kann auch Studierende der HU nur dazu einladen, sich bei uns mal anzuschauen, wie es eben auch gehen kann.

Das Gespräch führten Pia Wieners und Anna Raab.


Bilder: Marcus Funck, Philipp Arnoldt