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Letzte Generation: Auf der Straße hagelt es

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Es ist Nachmittag und mitten auf einer Schöneberger Straßenkreuzung sitzen Menschen. Bei einer Blockade der Letzten Generation kann es schon mal ungemütlich werden. Sollten die Anliegen der Klimakrise nicht wichtiger sein als unsere Alltagsprobleme?

Mit Hingabe und fast schon zärtlichen Bewegungen reibt ein Polizist das weiße Tuch unter der Hand hin und her, die noch halb am Boden festgeklebt ist. Der kalte Asphalt glänzt vom Sonnenblumenöl, das verwendet wird, um den Klebstoff zu lösen. Vier Polizeibeamt*innen beugen sich kniend über die von der Kälte rot leuchtenden Hände der letzten drei auf der Straße verbliebenen Aktivist*innen. Nach ungefähr 1,5 Stunden Straßenblockade stehen nur noch wenige Zuschauer*innen am Rand.
Dieses seltsam friedliche Bild entsteht vermutlich auch durch den Kontrast zum Beginn der Aktion. Und weil diese fürsorglich anmutende Begegnung zwischen Menschen passiert, die in den Köpfen vieler nicht gerade mit Zuneigung aufeinandertreffen. Gibt es wirklich so viel Hass gegen die Letzte Generation? 

Am 10. Januar begibt sich die von CSU-Politiker Alexander Dohbrindt als potentielle „Klima-RAF” bezeichnete Gruppierung bei eisigen minus vier Grad Celsius auf einen Fußgängerübergang der vielbefahrenen „Hauptstraße” in Berlin-Schöneberg. Eigentlich würden Autos hier die Kreuzung des S- und U-Bahnhofs Innsbrucker Platz überqueren. Es ist 15:15, die Nachmittagssonne scheint und viele Menschen, darunter auch eine Menge Jugendlicher, sind gerade auf dem Nachhauseweg. Dass sich sechzehn Menschen mit orangenen Warnwesten mitten auf dem Asphalt des Fußgängerüberganges niederlassen und beginnen, jeweils eine Hand mit Sekundenkleber auf der Fahrbahn zu fixieren, wird in der allgemeinen Hektik nur aus dem Augenwinkel wahrgenommen. Als die Ampel umschaltet, lenkt ungeduldiges Hupen Aufmerksamkeit auf die Sitzenden. Sie halten Schilder in der Hand, auf denen Sätze stehen wie „Weg von Fossil hin zu Gerecht!” oder „ACHTUNG BITTE ZUHÖREN”. Presse und Fotograf*innen wirbeln um die Aktivist*innen herum.
Es wirkt fast so, als ob diejenigen, die zufällig hier vorbeilaufen oder mit ihren Fahrzeugen feststecken, unfreiwillig Teil einer Inszenierung geworden sind, über die alle außer sie selbst Bescheid gewusst haben. In vorderster Reihe ist ein gelber BVG-Doppeldeckerbus der Linie M85 Richtung „S-Lichterfelde Süd” gestrandet. Die darin sitzenden Menschen schauen ungläubig auf die Straße. Wie dringend nötig Klimaschutz ist, haben die meisten Menschen mittlerweile verstanden. Aber um halb vier nachmittags, mitten im Feierabendverkehr will man wirklich ungern in diesem sich langsam anstauenden Knäuel an Schaulustigen, Pressekameras und Flyer aushändigenden Klimaaktivist*innen feststecken. Mal ganz davon abgesehen, dass ein Großteil der Personen nicht wirklich nachvollziehen kann, was diese Aktion mit Klimaschutz zu tun haben soll. 

Und dann kommt ein Rettungswagen…

Ein sichtlich genervter Vater fährt samt Kinderwagen dicht an die Aktivist*innen heran und spricht zu seinem Nachwuchs mit kindlichem Unterton: „So, wir gucken uns das mal an. Die sitzen hier und blockieren die Straße. Da stehen jetzt ganz viele Autos im Stau, die haben alle den Motor laufen und das verbraucht ganz viel CO2. Und gegen den öffentlichen Nahverkehr sind sie auch, denn der Bus kommt auch nicht weiter.” Als sich eine Person der Letzten Generation an den Mann wendet, skandiert dieser laut sein Unverständnis für die Aktion: „Deutschland hat den geringsten CO2-Verbrauch seit den 50er-Jahren!”. Danach entsteht ein absurd komisches Szenario: Die Diskussion zwischen den beiden zieht immer mehr Umstehende an, die sich in das Gespräch einmischen und der Aktivistin unterschiedliche Argumente hinwerfen. Mindestens drei verbale Tennisbälle gleichzeitig muss sie abwehren. Einige Passant*innen lassen sich erst gar nicht auf ein Gespräch ein, sondern spucken im Vorbeigehen ihre verbalen Gewaltausbrüche aus.  

Hinter dem Bus der BVG staut sich derweil der Verkehr. „Ihr klebenden Arschlöcher!”, brüllt ein älterer Mann im Vorbeigehen. Mittlerweile ist auch die Polizei eingetroffen und gibt ihr Bestes, die immer chaotischer werdende Situation zu überblicken.
Wenige Minuten später rast ein Rettungswagen mit Blaulicht und Sirene durch die notdürftig geschaffene Rettungsgasse auf die Blockade zu. Schnell springen mehrere Aktivist*innen von der Straße auf und machen den Weg frei. „Ihr relativiert Menschenleben!” behauptete zuvor ein wütender Passant selbstbewusst, während sich nun zeigt, dass eine Rettungsgasse mitbedacht wurde und einwandfrei funktioniert. 

Die Letzte Generation ist der Ansicht, dass sie mit ihren Aktionen eine politikwissenschaftlich erforschte Strategie verfolgt. Es geht um gezielte, aber friedlich bleibende Störung und vor allem um Aufmerksamkeit. Die Blockade bewirkt, dass wildfremde Menschen miteinander ins Gespräch kommen. Tatsächlich gibt es hier am Innsbrucker Platz nämlich auch einige konstruktive Begegnungen. Eine Frau diskutiert mit einer Aktivistin am Boden darüber, wie man die Klimaziele erreichen könne. Seufzend erklärt sie, dass eine Verkehrsblockade jedenfalls nicht der richtige Weg sei. Man muss die Aktionen der Letzten Generation nicht gut finden, um ihre Inhalte zu unterstützen.

Trotz aller Entschlossenheit ist den größtenteils jungen Menschen ihre Anspannung anzusehen. „Aber ich mache das ja nicht zum ersten Mal”, erklärt einer der Sitzenden. Außerdem sei das hier ein Kinderspiel im Vergleich zu Autobahnblockaden, bei denen die Leute noch wesentlich ungehemmter seien. Bei Blockaden in Friedrichshain habe er dagegen besonders viel Zivilcourage erlebt.
Die Menschen der Letzten Generation bringt Verzweiflung auf die Straße. „Ich habe zwei Töchter Zuhause und Angst um ihre Zukunft”, sagt eine Aktivistin. 

„Der Planet hat keine Lobby”

„Ihr macht euch alle strafbar!” schreit eine aufgebrachte Frau und erhält Beifall von einer Gruppe Jugendlicher. „Müsst ihr nicht arbeiten?” oder „Habt ihr keinen Job!?” sind Anschuldigungen, die ebenfalls häufig zu hören sind. Ironischerweise verhören am Straßenrand neben dem Ausgang des U-Bahn Schachtes zwei Polizisten einen der angeblich Arbeitslosen. Seine orangene Warnweste hält er ausgezogen in der Hand, sodass ein darunter getragener Blaumann zum Vorschein kommt.
„Die nerven!”, meinen zwei Mädchen, die das Geschehene belustigt verfolgen. Allerdings sind sie davon überzeugt, dass es sich wegen der Schilder, auf die künstlerisch nicht sehr anspruchsvolle Traktoren gemalt worden sind, um Landwirte handeln muss. Diese demonstrieren nämlich zeitgleich in der Stadt. Die Aktion wurde tatsächlich unmittelbar als Reaktion auf die Bauernproteste initiiert. Man ist fassungslos, dass Blockaden, nun von anderer Seite verwendet, ein direktes Einlenken der Politik erzielt haben. „Die Agrarwirtschaft hat eine starke Lobby. Der Planet nicht”, sagt einer der jungen Menschen in orangenen Westen resigniert. Vor ihm hat die Polizei mit neonfarbenen Graffiti sorgfältig eine Nummer markiert, kurze Zeit später wird er von ihnen weggetragen werden. 

Doch so einseitig, wie es Hass-Videos aus dem Netz vermuten lassen, sind die Reaktionen auf eine Blockade nicht. Ein großer Teil der im Bus Gestrandeten hat die Aktion weitestgehend stillschweigend hingenommen und sich auf die Suche nach Ausweichmöglichkeiten gemacht. Und auch wenn die genervten oder beleidigenden Stimmen die Solidaritätsbekundungen mit der Letzten Generation übertönen, gibt es sie. Ein älterer Mann schiebt sein Fahrrad an den Aktivist*innen vorbei und ruft: „Wie toll, dass ihr hier seid! Und ihr seid keine Traktoren! Sondern Menschen! Mit Verstand!” Stärkend hebt er eine Faust in die Luft. Eine junge Frau, die ebenfalls lauthals ihre Zustimmung des Protests verkündet hat, schaltet sich kurz danach nochmal ein und tritt vor die Menge Schaulustiger: „Eben wurde ich gefragt, warum ich mich denn nicht auch an die Straße klebe. Und wisst ihr warum? Weil ich mich nicht traue!”


Foto: Pia Wieners